Berichte aus einem unvollkommenen Garten 1:
Von der Depression zur Vorfreude
"Freunde! Es gibt glücklichere Zonen
Als das Land, worin wir leidlich wohnen ..."
(F. Schiller)
Trübsal blasen fällt im Augenblick nicht schwer. Der Himmel ist verhangen und kann sich nicht zwischen Winter, Frühjahr oder Spätherbst entscheiden. Die Pflanzen des Gartens werden vermutlich – wer weiß das schon mit Sicherheit? - keinen grippalen Infekt bekommen, aber das Übermaß an Feuchtigkeit lässt für einige wieder Schlimmes befürchten. Das sind Momente, wo mir der Garten zuwider sein kann. Er schafft das zwar hin und wieder auch dann, wenn er mich aus ungepflegten und verunkrauteten Ecken frech und auffordernd angrinst, doch jetzt quatscht es bei jedem Schritt unter den Schuhen. Die Erde hat die Konsistenz eines lehmigen Leimbreis und nach wenigen Metern haftet so viel Schlamm-Masse an den Sohlen, dass ich meine, auf Stelzen zu laufen. Leider suche ich in den Katalogen bisher vergeblich nach grün gefärbten Leichentüchern, mit denen sich der Garten gnädig zudecken ließe.
So man sich denn überwindet, den triefenden Mächten des Winterfrühjahrs – oder wie sollte ich dieses klimatische Interregnum sonst nennen – zu trotzen, überraschen einen dann doch die ersten zaghaften Hinweise auf künftige Gartenfreuden. Viburnum farreri (ich habe ihn leider nicht, komme aber fast jeden Tag beim Gang durch die Stadt an einem derartigen Prachtbusch vorbei) oder V. x bodnantense blühen und duften bereits seit einigen Wochen, so dass man sie schon fast übersieht. Deutlich auffälliger strahlen hingegen jetzt die Blüten des Winterjasmins (Jasminum nudiflorum), den ich, seinem botanischen Auftrag als Spreizklimmer folgend, an mehreren Baumstämmen hochziehe, so dass er mir inzwischen fast auf Augenhöhe direkt ins Gesicht leuchten kann. Unmittelbar an den Stammfuß gepflanzt, ist das Wachstum des Jasmins deutlich verhaltener. Es gehört eben eine gehörige Portion Geduld dazu, bis er das Geäst seiner Atlanten – oder sind es Karyatiden? – erreicht hat. Aber es lohnt sich! Im Rheingau sah ich einen derart geschmückten Rotdorn-Baum, von dessen Ästen die langen Peitschentriebe des Jasmins herabschaukelten, was auch außerhalb der Blütezeit sehr dekorativ aussieht.
Auch Mahonia bealei blüht unverdrossen seit etlichen Wochen und verströmt aus ihren gelben Blütenrispen, die eine starke Fernwirkung haben, einen an Maiglöckchen erinnernden Duft. Ich halte diese Art - natürlich handelt es sich bei meiner um eine Zuchtform, von der ich noch nicht einmal mit Sicherheit behaupten kann, ob sie nun M. bealei oder eher doch M. japonica oder gar von beidem etwas ist und deren Namen ich nicht mehr weiß. Sie wurde jedenfalls als klein bleibend etikettiert, hat inzwischen aber etwa 1,80 m erreicht; klein ist eben ein sehr relativer Begriff - für eines der wertvollsten und attraktivsten Gartengehölze, zumal sie absolut anspruchslos ist. Habitus und Blattform wirken zweifellos exotisch, aber nicht in einem Maße, dass dies als störend empfunden werden könnte.
In unmittelbarer Nachbarschaft prangt eine Christrose (Helleborus niger) in unschuldigstem Weiß. Zum Glück steht sie in recht steinigem Substrat, weswegen Regen und Schlammspritzer ihr wenig anhaben können. An anderen Stellen des Gartens stehen diese Pflanzen ungeschützter und sehen entsprechend erbarmungswürdig aus. Die Wildform, wir hatten vor Jahren ein Exemplar auf einer Kuhweide im Anzasca-Tal (Tessin) ausgegraben, kann nicht selten wie ein Schmuddelkind daherkommen. Unser Pflänzchen jedenfalls sieht immer zerzaust und wenig reinlich aus. Offenbar haben die häufigen Kuhfladen prägend gewirkt. Zunächst verblüfft hat mich eine nebenstehende Pflanze, die auf ersten Blick nicht zu bestimmen war. Unter zartem, rötlich-bräunlich gefärbtem, spitzenähnlichem Laub schiebt sich ein fliederfarbener Kegel empor. Ich konnte mich nicht erinnern, dort etwas gepflanzt zu haben. Gleichwohl schied ein einheimisches Gewächs definitiv aus. Derartige Überraschungen sind inzwischen in meinem Garten gang und gäbe. Die Gründe sind schnell aufgezählt: Unstillbarer Pflanzenhunger (als Spross einer kinderreichen Familie schielte ich auch früher schon wieder nach den Schüsseln, bevor der Teller leer gegessen war), die Sehnsucht nach dem reizvoll Neuen, Aversion gegen Etiketten (für mich sind Gärten, in denen die Pflanzenetiketten wie Minigrabsteine überall aus dem Grün hervorleuchten, ein Gräuel) und natürlich mein hervorragendes Altersgedächtnis, das sich lückenlos an Begebenheiten vor 40 Jahren erinnert, aber nicht mehr den soeben erstellten Einkaufszettel rekapitulieren kann.
Je nun, das Geheimnis des Fliedereis ließ sich dennoch lüften: Es handelt sich um Helleborus thibetanus, der nach zwei Standjahren erstmals sein Blütenköpfchen reckt. Ich bin beglückt und freue mich schon allein deshalb über das milde Winterwetter. Ohnehin schaue ich der prognostizierten Klimaerwärmung frohen Herzens entgegen, auch wenn ich damit bei verantwortungsvolleren Menschen ein Stirnrunzeln hervorrufe. Meine gärtnerische Selbstsucht ist jedoch so stark ausgeprägt, dass ich südenglische Klimaverhältnisse innigst herbeisehne, wodurch es mir möglich würde, meinen Traum-Rhododendron, Rh. arboreum, aufzuziehen. Vielleicht erlebe ich es ja noch oder muss enttäuscht feststellen, dass wissenschaftliche Prognosen nichts anderes sind als eine umständlichere, aber kostenintensivere Form des Kartenlegens. Neid empfinde ich nicht hinsichtlich größerer Gärten (von den schöneren ganz zu schweigen; die soll es geben, sagt mir die Vernunft – das muss mir erst noch bewiesen werden, sagt mein Herz, wenn der unsrige im Juni seinem Höhepunkt zustrebt). Wer große Gärten auf Dauer unterhalten und pflegen kann, muss entweder über nahezu unbegrenzte Hilfsressourcen verfügen, ein Übermaß an Zeit haben oder altersabhängige Kräftegrenzen erst in sehr weiter Ferne vermuten. Ich dagegen rudere langsam zurück und überantworte immer größere Areale des Gartens dem ein klein wenig von mir gesteuerten Zufallsspiel der Natur.
Nach dem ich den ersten "Dennoch"-Pflanzen meine Reverenz erwiesen hatte, war kein Halten mehr. Nahezu über den Boden kriechend wurde jetzt trotz schlechten Wetters, mit Schubert hätte ich singen können
"Die kalten Winde bliesen
Mir grad ins Angesicht;
Der Hut flog mir vom Kopfe,
Ich wendete mich nicht!",
Quadratzentimeter für Quadratzentimeter untersucht, wo Farbe blitzte. Und das erwies sich an gar nicht so wenigen Stellen.
Eine alte Gartengefährtin, die einem schon die Tränen der Dankbarkeit in die Augen treiben könnte, ist Primula vulgaris, ein zart-gelbes Souvenir aus Süd-England, wo sie noch reichlich an Straßenrändern und Waldwegen vorkommt. Hier in Deutschland ist sie wohl nahezu ausgestorben oder war wegen ihrer relativen Kälteempfindlichkeit nie so richtig heimisch. Primula acaulis, wie sie auch genannt wird, beginnt in meinem Garten regelmäßig um die Weihnachtszeit zu blühen, setzt dies bis etwa März ununterbrochen, allerdings etwas zaghaft, fort, um dann mit einem überreichen Blütenflor zur Bestform aufzulaufen. Wenn nicht die Schnecken wären, könnte sie ausgegraben und eingetopft die Königin jeder Blumenausstellung sein. Erst im Laufe des Sommers legt sie eine kurze Pause ein, zwinkert aber immer noch dann und wann mit ein paar gelben Augen. Woher dieses Pflänzchen seine unerschöpflich erscheinenden Kräfte nimmt, ist mir unerklärlich.
Nicht ganz so weit ist eine andere Zarte, die ihre Schönheitsattribute gleich einem winzigen, eingerollten Regenschirm noch ein wenig zurückhält, aber die Farbe bereits ein wenig aufscheinen lässt: Cyclamen coum. An mehreren Stellen des Gartens haben sich die Knollen dieser Alpenveilchenart inzwischen fest etabliert und sogar reichlich vermehrt. Zwar können sie es nicht mit dem Ausbreitungsdrang ihrer Verwandten, Cyclamen neapolitanum, aufnehmen, dafür ist aber C. coum wertvoller wegen des frühen Blühtermins, doch leider auch deutlich empfindlicher. In einem strengen Winter schien meine gesamte Population verstorben zu sein. Nur wenige haben überlebt und diese Wenigen benötigten doch einige Jahre, um sich einigermaßen zu erholen. Vermutlich dürften auch die Wühlmäuse, von denen ich reichlich habe, an dem Verschwinden vieler Knollen nicht ganz unschuldig sein.
An besonders geschützten Stellen sind kleine braune Rücken erkennbar, die unter sich etwas Gelbes verborgen halten, als hielten sie es für verfrüht, ihre Schätze vorzuzeigen. Es handelt sich um die besonderen Schützlinge meiner Frau, um Eranthis hyemalis. Inzwischen haben wir durch Selbstaussaat und nachbarliche Geschenke (wir rufen immer unisono "Ja!", wenn schon mal einer fragt, ob wir...) und auch durch einige Zukäufe einen beachtlichen Bestand aufgebaut. Das Wort "genug" habe ich von meiner Frau bisher allerdings noch nicht vernommen. Leider haben wir bisher lediglich diese eine, einheimische Art. Das ebenfalls gut verbreitete E. cilicica oder gar die Hybride E. x tubergenii "Guinea Gold", die nicht nur hoch gelobt, sondern ebenso hoch bepreist ist, fehlen uns hingegen. Aus China hatte ich 3 winzige Knöllchen, man konnte sie für Vogelkot halten (was die Würmchen vermutlich auch so sahen, weshalb sie kurzen Prozess machten), die für einen Sommer etwas Grünes, was vermutlich Blätter sein oder werden sollten, vorzeigten, sich dann aber auf Nimmerwiedersehen verabschiedeten. Es soll sich um Eranthis stellata gehandelt haben. Ich will es glauben, aber dennoch hoffen, dass mein Leben jetzt nicht deutlich ärmer ist.
Die Schneeglöckchen halten sich derzeit noch vornehm zurück. Durch intensivstes Hamstern verfügen wir inzwischen über mehrere Legionen, von denen wir Kohorten unter Büsche und Bäume verteilt haben, von wo aus sie selbst inzwischen etliche Manipel ausgesandt haben. So erobern die Schneeglöckchen allmählich aber mit Stetigkeit unseren Garten. Ein paar Wildarten wurden inzwischen hinzugesellt wie z.B. G. elwesii und G. ikariae latifolius. Allerdings zweifle ich, ob sie "echt" sind. Zumindest stimmen Beschreibung in der Literatur und Aussehen oft nicht überein. Aber vielleicht irrt ja die Literatur. Doch ist das nicht weiter schlimm. Die Reingeschmeckten erreichen meines Erachtens ohnehin nicht den Charme der Eingesessenen. Es gibt Grenzen meines gärtnerischen Ehrgeizes. Wenn ich mich erst flach auf den Bauch legen muss, um so einem unschuldigen Blümelein unter den Rock zu gucken, als sei ich ein alter Voyeur, damit ich die Rüschen und Farbringe zu zählen vermag, dann hört für mich der Spaß ein wenig auf. Und wenn einer fragt, ob ich denn habe, sage ich einfach ja. Mag er sich doch in den Dreck legen und mich der Lüge überführen.
Ebenfalls sehr zaghaft hebt auch das Leberblümchen (Hepatica nobilis) schon mal den ganz kleinen Finger. Eigenartigerweise ist es immer das Weiße, das vornweg marschiert. Es zeigt meist nur eine einzelne Blüte, um sich anschließend wieder für etliche Wochen zu verkriechen. Dann werden wieder mehrere Sterne nachgeschoben, ohne aber in Üppigkeit auszubrechen. Eine etwas spröde Schönheit, die die Sehnsucht nach ihr durch starke Zurückhaltung zu steigern vermag. Das weiße Leberblümchen ist ein Mitbringsel aus dem Wallis. Vor über 25 Jahren fand ich in einem Gebüsch in etwa 1500 Meter Höhe einen größeren Bestand, von dem ich ein Pflänzchen mitnahm. Ich kann nicht sagen, ob eines der beiden, die derzeit noch in meinem Garten sind, die Urpflanze ist, was ja eine sensationelle Langlebigkeit bedeuten würde, oder ob es sich nur um Nachkommen handelt. Beider Konstitution ist leider deutlich schwächer als die ihrer blauen Verwandten.
Der einheimische Seidelbast (Daphne mezereum) hat ebenfalls ein paar Blüten geöffnet, als wolle er testen, ob man es schon wagen könne. Üppig dagegen fällt dieses Jahr der gelbe Tusch der Zaubernüsse aus. Insbesondere die Sorte "Pallida", ein Blüten-Garant, scheint sich außerordentlich anzustrengen. Leider sind meine drei Sträucher noch klein und bieten kein sonderlich spektakuläres Bild. Meine am Niederrhein lebende Schwester hat auf ihrem Grundstück einen mehrere Meter hohen Großstrauch, der einem in voller Blüte den Atem rauben kann.
So hat sich die anfängliche Depression in freudevolle Erwartung verwandelt. Es genügt eben eine recht kurze, milde Periode, um gleich alles sprießen zu lassen. Das ist schon ein Wunder. Das Betreten der Beete verbietet sich von selber. So scharf können die Augen gar nicht sein, um alle Sprossen, die sich langsam hoch schieben, zu erspähen. In einigen Tabu-Zonen habe ich die besonderen Pflanzenschätze zusammengefasst. Zu ihnen gehören zwei neue Paeonia tenuifolia aus dem Göttinger Neuen Botanischen Garten. Ehrlich erworben, möchte ich nur betonen, bevor sich hier ein paar finstere Gedanken einschleichen. Die wahren Kostbarkeiten aber haben die drei Steingärten aufgenommen, in denen es auch bereits unruhig zu werden beginnt. Der eine oder andere Steinbrech wurde offenbar schon mal vorgeschickt, mit Einzelblüten die Lage auszuloten. Ich hoffe, dass es für die Schnecken noch zu früh und zu kalt ist.
Letzte Aktualisierung: 28.02.2005 - © Garten-pur GbR