Heiterer Abschied mit schwerem Herzen

„Ich habe indes gut aufgeladen und trage das reiche,
sonderbare, einzige Bild mit mir fort.“
(J.W. von Goethe)

Als wir unseren vormittäglichen Ombra in einem kleinen Lokal nahe den Arsenalen nahmen, saß am Nebentisch ein sehr altes Ehepaar. Es waren Holländer, die für immer Abschied von Venedig nahmen. Viele Jahre seien sie hergekommen und hätten etliche Wochen in dieser Traumstadt verbracht. Jetzt seien sie zu alt geworden und könnten die vielen Brücken nicht mehr verkraften. Sie sagten Venedig in dieser Trattoria, die ihr Stammlokal gewesen sei, Lebewohl. Sie taten es mit einer melancholischen Heiterkeit, die der tiefen Dankbarkeit entsprang, über einen langen Zeitraum etwas Wunderschönes erlebt zu haben. Die Begegnung hat uns sehr gefreut, aber auch ein wenig traurig gemacht. „Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns...“ (Rilke).

Jedoch ist Venedig kein Ort für längere Trauer. Die Straßen sind voller Gaukler (Bild 54), laut rufender, Kunden fangender Gondoliere, schiebender und schubsender Touristen. Die Luft ist erfüllt von dem Geknatter der Vaporetti und dem Lärm der Besucher. Die Sinne sind gefangen genommen von dem bunten Kaleidoskop aus Straßenhändlern, Baudenkmälern, Attenzione rufenden Kärrnern, köstlichsten Dekorationen (Bild 55), kauzigen Auslagen. Eine Stadt voll des prallen Lebens. Das Heilige steht unmittelbar neben dem Profanen (Bild 56), der Priester konkurriert mit dem Beau (Bild 57). Würde die Stadt von weniger oder anderen Menschen bevölkert, es wäre nicht Venedig.

Wir sind nur abgereist, um eines Tages wiederzukommen. Venedig hat unzählige Liebhaber. Das aber hindert mich nicht, einer in diesem Heer zu sein und mich dennoch als den einzig Wahren zu empfinden. Und so kehre ich immer wieder nach Venedig zurück, sowohl als Besucher als auch gedanklich. Venedig kann man nicht mehr vergessen. Vedi Napoli e poi muori, Neapel sehen und dann sterben, heißt es. Auf Venedig träfe dieser alte Spruch noch viel eher zu. Nicht, dass ich in Venedig begraben werden möchte, aber dieses Kunstwerk ist es allemal wert, als einer der letzten Eindrücke mit ins andere Land genommen zu werden (Bild 58).


„...Meine Seele, ein Saitenspiel,
sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu,
zitternd vor bunter Seligkeit.
- Hörte jemand ihr zu?...“

(Friedrich Nietzsche)


Letzte Aktualisierung: 22.11.2005  -  © Garten-pur GbR