Piazza San Marco

„Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst,
Den nicht die Eintracht süßer Töne rührt,
Taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken...
Trau keinem solchen! – Horch auf die Musik!
(William Shakespeare)

Ich weiß keinen Unterschied zwischen Tränen und Musik zu machen
(Friedrich Nietzsche)

Piazza San Marco, das berühmte Herzstück Venedigs, muss man bei drei Gelegenheiten gesehen haben: Morgens, wenn die Schwärme der Tagestouristen noch nicht eingefallen sind und außer ein paar Straßenfegern und den ersten emsigen Geschäftsleuten kaum jemand diese imposante Freifläche überquert (Bild 9). Selbst die Tauben haben sich noch nicht zu ihrer aggressiven Nahrungssuche aufraffen können, da sie Kräfte sammeln müssen für den bevorstehenden Trubel. Sodann sollte man hier um die Mittagszeit einen kurzen Moment verweilen, wenn diese kaum zu begreifende Menschenmenge den Platz überbevölkert („... Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn...“). Trotz aller negativen Begleiterscheinungen ist es absolut faszinierend, dieses bunte Vielvölkergemisch, mit seinem babylonischen Sprachgewirr, hautnah zu erleben. Hier trifft sich die Welt und staunt (Bild 10). Wiewohl Plätze Menschen bedingen, entfaltet der Markusplatz seinen wahren Zauber jedoch erst in den späten Abendstunden (Bild 11).

Nachts um 23.00 Uhr einen Walzer tanzen? Warum nicht. Kaum etwas Außergewöhnliches. Auf der Piazza San Marco, dem „schönsten Salon Europas“, wie Napoleon einmal gesagt haben soll (womit er aber meines Erachtens untertrieben hat), ist es hingegen ein ganz exquisites Vergnügen. Selbst bei Regenwetter lassen es sich die Orchester der drei berühmten Cafés Florian (Bild 12), Quadri und Lavena nicht nehmen, die kleine Schar der ausharrenden Touristen mit ihren flotten Weisen zu unterhalten. Es ist eine unnachahmliche Atmosphäre, wenn auf diesem hell erleuchteten Platz, die Basilika San Marco und ihr Campanile sind nur noch schemenhaft zu erkennen, die Opern-, Operetten- und Gassenhauerklänge durch die Luft vibrieren und das Publikum von einem zu dem anderen Orchester locken, die in einem schmunzelnden Wettbewerb um die Gunst der Zuhörer geigen, klimpern, zupfen und flöten. Auf der Piazza hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, die dem Orchester des Caffès Quadri, das flotte Schlager- und Operettenmelodien intonierte, begeistert zuhörte. Mit Beifall wurde nicht gespart. Das animierte die etwa 30 m entfernten Musiker des Caffès Lavena (Bild 13) ebenfalls noch einmal aufzuspielen, allerdings mit klassischen Kompositionen. Die Zuhörer schlenderten hinüber und ließen sich einlullen mit den Klängen von Verdi, Puccini und Bizet. Kaum war das Potpourri beendet, antworte die Konkurrenz mit einem Reigen von Walzern und Polkas. Und so klang es hier und dort, etwa eine Stunde lang. Das Publikum wanderte unterdessen zwischen den Orchestern hin und her und schwankte zwischen Rührung und Begeisterung. Die unsterblichen Klänge der E- und U-Musik, die in dieser Heiterkeit keinen Gegensatz mehr darstellten, stiegen in die linde Nacht hinauf zu den ernsten, nur noch als Konturen erkennbaren Fassaden der ehrwürdigen Gebäude und erzeugten eine überaus sinnliche Stimmung. So manches Auge glitzerte verdächtig feucht.

All das geschieht auf hohem Niveau und mit sehr viel Schmelz und Schmalz. Voll des Weins und guten Essens, die Tritsch-Tratsch-Polka weiterhin im Ohr schwebten wir dann heimwärts zum Hotel in der festen Überzeugung, etwas Schöneres selten erlebt zu haben. Unterwegs trifft man Straßenmusikanten oder Komödianten (Bild 14), schaut ihnen eine Weile zu, weil einige sich mit erstaunlicher Perfektion produzieren, so dass man gerne gibt, schaut in die Auslagen der Edeldesigner und überkandidelten Juweliere, witzelt über schwülstige Muranogläser, bewundert zarte venezianische Glaskelche so lange, bis der Preis enträtselt ist und ist dennoch leichten Herzens, auch wenn man sich das alles nicht leisten kann. Denn diese venezianischen Nächte sind nicht mit Geld aufzuwiegen.

Die Stadt ist eigentlich recht einfach zu erlaufen. Alles ist näher als vermutet. Doch schnell fühlt man sich wie ein Hamster im Laufrad, da diese Gasse bereits dreimal durchquert wurde. Und gerade jetzt ist kein Stadtplan zur Hand oder diese Gasse ist nicht verzeichnet. Passanten zu fragen ist zwecklos. Den just in diesen Momenten sind keine da oder sie verstehen weder Englisch, Französisch noch  Italienisch. Denn die Einheimischen treiben sich um diese Zeit nicht mehr herum. Der erfahrene Venedigbesucher peilt die nächste Hauptsehenswürdigkeit an, Rialto (Bild 15) oder San Marco, und beginnt von dort aus seine Hotelsuche erneut. Zwischendurch kann ja ein Gläschen Wein oder ein Grappa nicht schaden. In Hamburg, Berlin oder München würde man, wie prosaisch, ein Taxi nehmen.

 


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Letzte Aktualisierung: 17.11.2005  -  © Garten-pur GbR