Kunst, Gebrauchskunst, Handwerkskunst

„Mehr Inhalt, wen’ger Kunst“
(William Shakespeare)

Venedig ist ein unvergleichliches Kunstwerk an sich und es fällt zumindest mir schwer, angesichts dieser Stadt moderne Kunstwerke zu würdigen. Die inzwischen zu Ende gegangene Biennale hat mich nicht gereizt. Vor der Toren der Ausstellung habe auf dem Absatz kehrt gemacht. Ich wollte die knapp bemessene Zeit nicht der Stadt und unseren Erkundungsspaziergängen vorenthalten. Aber die Ausstellung der Gemälde Lucian Freuds im Museo Correr haben wir dann doch als schwere seelische Last auf uns genommen. Seine Portraits, sie gehen einem in ihrer drastischen Körperlichkeit unmittelbar unter die Haut, sind von expressiver Wucht und erschlagen einen förmlich mit dem tiefen Blick in die zerrissenen Charaktere des Malers und seiner Sujets. „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen was ich leide.“ könnte man mit Goethes Torquato Tasso ausrufen. Zum Glück schien draußen die Sonne auf eine fröhlichere Welt, die wir mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung in uns aufnahmen..

Überall in der Stadt verstreut stehen und liegen Skulpturen und Bronzegüsse, die zum Teil ausnehmend imposant wirken. Beeindruckend die riesigen Bronzeköpfe des polnischen Künstlers Igor Mitoraj, der die Idealformen der Antike zum Vorbild nimmt, somit ein „Klassizist“ ist, der aber teilweise fragmentiert und verfremdet (Bilder 36 und 37). Besonders angetan waren wir von dem Bildhauer Matteo Lo Greco, dessen lebensfrohe und lebenspralle Figuren eine ganz besondere Dynamik und Fröhlichkeit ausstrahlen (Bilder 38 und 39). Die Entscheidung, alle überflüssigen Kaufabsichten für Venedig über Bord zu kippen und statt dessen lieber eine kleine Skulptur zu erstehen, fiel nicht schwer. Die kleine Dame namens „Olympia“ rächte sich für ihre Verschleppung in den unwirtlichen Norden mit ihrem Übergewicht, das eine deftige Nachzahlung bei der Fluggesellschaft auslöste. Krämerseelen! Einen Botero hätte ich auch gerne mitgenommen (Bilder 40 und 41). Aber der Galerist hatte ein zu wachsames Auge und ich keinen Schwertransporter.

Die Guggenheim Collection  ist ein Muss für einen verregneten Nachmittag. Ich war etwas enttäuscht über das schmale künstlerische Zeitfenster. Die drangvolle Enge, das Museum diente allzu vielen als Fluchtaufenthalt vor dem Regen, tat ein Übriges, um keine Nähe zu den Kunstwerken aufkommen zu lassen. Erheiternd ist Marino Marinis phallusmächtiger Reiter, der mit ekstatisch ausgebreiteten Armen offenbar ganz Venedig umfassen möchte (Bild 42). Finden auf dem Canal Grande Prozessionen statt, wird dem Reiter der Phallus abgeschraubt.

Gemächliche Streifzüge durch die Gassen, immer auf der Suche nach noch verwinkelteren Einblicken und so dem vermeintlich Geheimnisvollen auf der Spur, führen zu Künsten ganz anderer Art. Die venezianischen Karnevalsmasken sind sattsam bekannt und inzwischen ein Kitsch des Überdrusses. Und doch gibt es einige künstlerisch orientierte Handwerker, die sich dieser Masken mit einer besonderen Liebe für das Filigrane oder Skurrile angenommen haben, so dass jedes Stück ein Unikat ist (Bilder 43-45). Man muss diese Masken, denen historische Vorlagen zugrunde liegen,  nicht unbedingt lieben, um diese handwerkliche Kunst hoch einzuschätzen. Venedig ist nun mal die Stadt des Karnevals und der ganz besonderen Kostüme, von denen die meisten immer ein Hauch von Grauen und Tragik umgibt (Bild 46).

Unweit der Accademia gibt es einen Künstler, der nicht seinesgleichen hat. Er formt für die Gondeln aus dem Holz des Walnussbaums „la forcola“, die Rudergabel, ein eigenartiges, in sich gewundenes Gebilde (Bild 47-49). Sie wirkt wie ein abstraktes Kunstwerk und ist der Statur und Körpergröße des Gondoliere angepasst. In ihre unterschiedlichen Einbuchtungen wird das Ruder je nach Manöver eingelegt: vorwärts, rückwärts, abbremsen oder beschleunigen. Offenbar wird das Wissen um diese beispiellose Form überliefert. Zeichnerisch ist sie wohl kaum wiederzugeben. Wäre die Gabel nicht fast unerschwinglich teuer, ich würde sie mir als moderne Skulptur in die Wohnung stellen.

Alte Handwerke, die bei uns inzwischen als ausgestorben gelten, haben sich in Venedigs Gassen erhalten. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich einem Polsterer zusehen, der eine Matratze nähte (Bild 50). Etwas weiter fertigte ein Künstler seines Fachs wunderschöne Bilderrahmen, auf Wunsch in jeder nur erdenklichen Stilrichtung (Bild 51).

Es ist die Hingabe, mit der die Dinge hergestellt werden, die so beeindruckt. Diese Menschen haben eine Aufgabe und ein spezifisches Können. Und das üben sie mit großem Ernst und großem Stolz aus. Sie produzieren nicht, sondern erschaffen etwas Individuelles mit ihren Händen. Jedes Stück ein Unikat.

In der Nähe des Ghettos fanden wir einen Laden, der sich auf alte und altertümliche Armaturen und Elektroinstallationen kapriziert hatte. Alle Epochen waren vertreten und keine noch so verspielte Art fehlte. Eine Fundgrube für Restaurateure und Liebhaber des rechten Stils (Bild 52). Derartige Läden sind in Italien noch allenthalben zu finden. Auch sie zeugen von einer Verbundenheit zu Dingen, die vorherigen Generationen einst als schön und erstrebenswert galten. Man muss diese Ansicht nicht teilen. Aber man kann sie respektieren, in dem man diese Dinge bewahrt.

„La Fenice“, das berühmte Opernhaus (Bild 53), durch Brandstiftung zum wiederholten Male zerstört, wurde in diesem Geist aus der Asche neu errichtet. Dieser Aufgabe hat sich der geniale Architekt Aldo Rossi, dem wir auch in Berlin einige herausragende Bauten zu verdanken haben, mit besonderer Behutsamkeit angenommen. Der Auftrag  „Wo es war und wie es war“ hinderte ihn nicht am Einbau moderner Elemente und einigen äußerst sanften Veränderungen, da es ja nicht Dasselbe sein sollte und konnte, sondern nur ein „Zitat des Zerstörten“.

 


Dieser Reisebericht endet mit dem Abschied.

Letzte Aktualisierung: 22.11.2005  -  © Garten-pur GbR